| noname on Mon, 8 May 2000 09:48:52 +0200 (CEST) |
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Die Realitaet aufsuchen
oder »Die Hemingway-Forderung«
Kassel, 04.05.2000
So sieht es also aus, das "Haus 2000" nach der Renovierung, moechte mensch
meinen, nachdem die ersten Milleniumpartyserien ("Millenium Party III"
Plakataufschrift gesehen in Kassel, 4.5.2000) langsam zuendegehen. Wir
schmeissen den Content-Sampler an ...
Nach dem ersten Urlaub im Jahr sind die "Die Medien" wiedereinmal als Apriori
der Gesellschaft erkannt, aber diesmal nicht historisch (Kittler) sondern in
Echtzeit (Bordieu). Muessen wir jetzt schnell die neuere franzoesische
Kulturkritik eintrichtern oder wenigstens diverse dekonstruktivistische
Strategie-Techniken verwenden, um ins Unterhaltungsfernsehen zu kommen, in dem
sich - nicht erst seit "virtuellen Simulationen" - ohnehin angeblich alle
befinden? Kann das Bild nicht endlich so aussehen, als waere es nur ein Bild?
Wenn es stimmt, dass das Fernsehen mit seinen sozialen Inszenierungen und
Ereignis-Arrangements die Teilgesellschaften nicht nur beginnt
mitzuproduzieren, sondern diese in Retorte komplett selbst herstellt, dann
braucht Analyse Tools fuer eine Echtzeitanalyse. Und wir, die User, brauchen
rote Knoepfe auf die wir druecken koennen. Das bedeutet, dass die Tele-Vision,
das Phantasma des nahen/fernen Bildes, zu soetwas wie World-Watching werden
mueszte, eine Ueberwachung der Ueberwachung, die in direkter Beziehung zur
individuellen Fernbedienung steht, der "Macht", wie es in
Fernsehguckerkreisen
bezeichnend heiszt.
Was derzeit in Manila auf der Insel Jolo die Rebellen mit den Geiseln die
Touristen waren anstellen, unterscheidet sich in seiner Rhetorik nur graduell
von Big Brother, den Teletubbies und Pokémons: der Versuch der totalen
Kontrolle, eine kalkulierte Nicht-Regie, Opfer-Taeter-Beziehungen,
Laborversuche live, symbolischer Tauschhandel, Serielle Produktion. "Es gibt
kein warmes Wasser, ueberall Kameras, man kann nicht weg, es ist hart". Oder
zynisch gesagt: die Gucker, die Urlauber waren bemerken nun die Moeglichkeit
der Unterscheidung von Realitaet und Wirklichkeit. Die Kameras sind immer
zuerst da, wie in Gladbeck, wie bei der Mondlandung. Medien schieben sich
nicht
dazwischen, sie TEILEN mit.
Der Plot hat die Struktur einer Trashpolitikunstsatire. Der Sohn des
entfuehrten Vaters schlieszt einen Exklusivertrag mit einem Privatsender ab.
Die militarisierten Freiheitsliebenden, die Kidnapper, tragen ihre Waffen
genauso zur Schau wie die neo-zappatistischen Helden in den Koepfen der
Kommunikationsguerilliafans in Berlin, nur dasz deren Koepfe vom Koerper noch
nicht getrennt sind. Der deutsche Auszenminister weisz warum, er traegt die
besseren Anzuege; das was er als Repraesentant des Nationallandes Deutschland
fuer uns sieht und spricht - das ist Corporate Identity (CI). Was ist die CI
eines Durchfalls in Europa im Vergleich zu einem in Entwicklungslaendern?
Hinfahren, sich als Austauschgeisel anbieten. Die Realitaet aufsuchen. Wie
expressionistische Kuenstler in den 1910er Jahren vielleicht, die in den 1.
Weltkrieg gingen, und wie Hemingway, der, um zu wissen wie Toeten
funktioniert,
Stierkaempfer spielte (?).
Noname
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